Zehnfache Steigerung der Produktivität

Artikel vom 24. November 2020

Heutige Flugzeugantriebe sind Wunderwerke der Technik. Vor allem die Schaufeln im Heißgasbereich müssen Belastungen aushalten, die noch vor nicht allzu langer Zeit als nicht beherrschbar erschienen. Da das weltweit steigende Luftverkehrsaufkommen zu rapide wachsender Nachfrage führt, muss die bisherige Fertigungstechnologie modernisiert werden.

Die Montagelinie der Turbinen bei MTU in München. Turbinenschaufeln sind im Betrieb extremen Bedingungen ausgesetzt und müssen daher besonders präzise bearbeitet und äußerst vorsichtig behandelt werden (Bild: Liebherr).

Die Montagelinie der Turbinen bei MTU in München. Turbinenschaufeln sind im Betrieb extremen Bedingungen ausgesetzt und müssen daher besonders präzise bearbeitet und äußerst vorsichtig behandelt werden (Bild: Liebherr).

»Bei der Hochpräzisionsbearbeitung von Schaufeln für Turbinen kommt es auf höchste Genauigkeit an«, erläutert Marc Weiß, Leiter flexible Fertigungssysteme bei der MTU Aero Engines in München. Das Unternehmen ist ein führender Hersteller von zivilen und militärischen Luftfahrtantrieben aller Leistungsklassen sowie von stationären Industriegasturbinen. Bei Turbinenschaufeln handelt es sich um Gussteile aus schwer zerspanbaren Nickelbasislegierungen mit hochkomplexer Geometrie, die mit äußerster Präzision bearbeitet werden müssen. Im Betrieb müssen die Schaufeln extreme Bedingungen aushalten: enorme Fliehkräfte, Temperaturen nahe am Schmelzpunkt und starke Vibrationen. Ein Bruch könnte zur Zerstörung des Triebwerks führen. Für alle Schritte der Herstellung gelten daher äußerst strenge Qualitätsanforderungen. Für die Entwicklung einer neuen, hoch automatisierten Fertigungsanlage kamen daher nur Zulieferpartner infrage, die diese Qualität und Zuverlässigkeit gewährleisten konnten.

Fortschritte bei der Automatisierung

»Die Anforderungen der MTU waren enorm und liefen auf eine mehr als zehnfache Steigerung der Mitarbeiterproduktivität hinaus«, erinnert sich Michael Appel, Gebietsverkaufsleiter Automationssysteme bei Liebherr-Verzahntechnik GmbH in Kempten. Um die enorm steigende Nachfrage bedienen zu können, sollte die Produktivität massiv gesteigert werden.

Die neue Automationslösung von Liebherr bei der MTU in München, mit der die Produktivität signifikant gesteigert wurde (Bild: Liebherr).

Die neue Automationslösung von Liebherr bei der MTU in München, mit der die Produktivität signifikant gesteigert wurde (Bild: Liebherr).

Bisher war jeweils ein Mitarbeiter erforderlich, um eine bis zwei Maschinen in einer Fertigungskette aus einzelnen Stationen manuell zu bedienen. Bei der neuen Lösung reicht dagegen ein einziger Mitarbeiter aus, um eine sehr hohe Bearbeitungstiefe an vier parallel arbeitenden, vollautomatischen Schleifbearbeitungszellen zu erreichen. Jede Zelle besteht aus einem 6-achsigen Schleifbearbeitungszentrum »Prokos XT« von Blohm, das von einem Roboter der Firma AMT versorgt wird. Der Roboter erhält Werkstücke, Spannvorrichtungen, Abrichtwerkzeuge und Greiferzangen von einem vollautomatischen Liebherr-Palettenhandlingsystem (PHS). Dank seiner 250 Palettenplätze kann es die Bearbeitungszentren für mindestens 66 Stunden mannlos versorgen, sodass die Anlagen auch bei Bedienung in Gleitzeit ein komplettes Wochenende durcharbeiten können.

Auf der anderen Seite der Fertigungszellen verläuft ein ebenfalls von Liebherr geliefertes Ladeportal (LP), über das die Maschinen mit Werkzeugen und Schleifscheiben versorgt werden. »Gehirn« des Ganzen ist ein Leitsystem von Soflex, das alle Anlagen miteinander vernetzt und eine weitestgehend selbstorganisierte Produktion ermöglicht. Dieses neue flexible Fertigungssystem (FFS) kann rund 15 verschiedene Bauteiltypen gemischt in beliebigen Stückzahlen bearbeiten. Der Arbeitsplatz für Maschinenbediener wurde zudem behindertengerecht ausgelegt.

Abgestimmte Automatisierungskomponenten

Der Produktbereich Automationssysteme gehört zur Liebherr-Verzahntechnik GmbH in Kempten und ist ein weltweit führender Spezialist für Automatisierungslösungen mit jahrzehntelanger Erfahrung. Mit einem breiten Produktspektrum wie Linearportalen, Palettenhandhabungssystemen und Förderanlagen können Projekte in allen Bereichen der Fertigung und Montage realisiert werden. Der Bereich Automationssysteme fertigt in Zusammenarbeit mit namhaften Maschinenherstellern Linienverkettungen, die Automatisierung von Bearbeitungszentren sowie die Systemintegration von Werkzeugmaschinen.

Über das Ladeportal werden die Maschinen mit Werkzeugen versorgt (Bild: Liebherr).

Über das Ladeportal werden die Maschinen mit Werkzeugen versorgt (Bild: Liebherr).

Schleifmaschinen der Blohm Jung GmbH genießen weltweit einen guten Ruf bezüglich Produktivität, Leistung und Präzision. Neben Standardmaschinen zum Flach- und Profilschleifen in Einzelstücken und Kleinserien werden auch kundenspezifisch angepasste Produktionsanlagen hergestellt. Ein modulares Baukastensystem ermöglicht dabei Lösungen für fast jede Werkstückgröße. Die Blohm Jung GmbH ist als Teil der Firmengruppe United Grinding mit eigenen Niederlassungen in Indien, China, Russland und den USA international vertreten. Die bei der MTU eingesetzten Anlagen verfügen über sechs Achsen und einen Dreh-Schwenktisch mit Nullpunktspannsystem, eine Profilierstation mit diamantbestückten Abrichtrollen für die Schleifkörper sowie einen Werkzeugwechsler für Schleifscheiben, Bohrer, Fräser und Messtaster. Die eingesetzte Bearbeitungssoftware wurde speziell von der MTU entwickelt.

Eine sehr diffizile Aufgabe übernehmen die in den einzelnen Zellen eingesetzten Montageroboter von AMT, einem Montage- und Verschraubungsspezialisten mit umfassender Erfahrung unter anderem in der Automobilindustrie. Die Roboter müssen die einzelnen Schaufeln aus Gestellen entnehmen, mit äußerster Präzision in eine spezielle Vorrichtung einlegen und dann durch Verschraubung spannen. Anschließend wird die Vorrichtung samt dem eingespannten Teil an das Schleifbearbeitungszentrum übergeben und dort mithilfe eines Nullpunktspannsystems fixiert. Diese Operation ist besonders diffizil und erfordert sehr viel Knowhow sowohl bezüglich der Übergabe als auch der Sensitivität der Verschraubungsoperationen. Die Turbinenteile müssen dabei wie rohe Eier behandelt werden, weil selbst kleinste Schäden oder Kratzer an der Oberfläche unzulässig wären.

Als Fertigungssteuerung kommt ein Leitsystem von Soflex zum Einsatz. Dieses digitalisiert, vernetzt und organisiert Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte direkt miteinander und optimiert hierbei die gesamte Wertschöpfungskette bis hin zur vollautomatisierten Werkstück- und Betriebsmittelbereitstellung. Die Software plant und organisiert die Auftragsabwicklung, steuert den Werkstückdurchlauf sowie die Bereitstellung von Werkzeugen, NC-Daten, Vorrichtungen etc. und übermittelt die benötigten Fertigungsinformationen an die Bearbeitungsmaschinen oder an den manuellen Arbeitsplatz. Zugleich fungiert das System als Bindeglied zwischen der Fertigung und den übergeordneten Managementebenen, indem es den automatisierten Informationsaustausch mit den anderen IT-Strukturen der Unternehmensplanung (ERP-, CAD/CAM- und PDM-Systeme) übernimmt.

Enge Partnerschaft beim Engineering

»Die eigentliche Herausforderung bestand für Liebherr darin, unsere modularen Automatisierungskomponenten so auszuwählen und mit den übrigen Systemen zu verknüpfen, dass ein reibungsloses Zusammenspiel zustande kam«, ergänzt Michael Appel. Zudem übernahm das Unternehmen auch die Verantwortung für die CE-Zertifizierung der kompletten Anlage. Die Zusammenarbeit im sehr kleinen, dafür aber auch sehr effizienten Engineeringteam wurde von der MTU koordiniert. Im Team arbeiteten die Partnerunternehmen auf Augenhöhe zusammen, tauschten Ideen aus und entwickelten im Dialog die entscheidenden Merkmale des Systems. Das umfasste selbst Details wie eine Hilfsfunktion für den Bediener, bei der ein Laserpointer auf die Stelle zeigt, wo das nächste einzusortierende Teil hingehört.

»Das System, das wir zusammen geschaffen haben, ist sehr komplex und dem bisherigen Stand der Technik weit voraus«, freut sich Marc Weiß. Hierbei habe Liebherr nicht nur durch passende Produkte im Automatisierungsbereich überzeugt, ebenso wichtig war die Tatsache, dass die eingesetzte Technologie ausgereift ist und sich im Praxiseinsatz bei zahlreichen Anwendern bestens bewährt hat. Besonders hervorzuheben sei auch die Kompetenz des Vertriebs. Die Anlaufphase der Gesamtanlage sei erfolgreich gewesen und die bisher erzielten Ergebnisse entsprächen den Planvorgaben. Mit der neuen Anlage sehe sich die MTU für die Anforderungen der Zukunft bestens gerüstet.

Teilen
PDF-Download
Weiterempfehlen
Drucken
Anzeige Hersteller aus dieser Kategorie